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15. Mai 2020, von Schwerbehindertenvertretung der Universität Hamburg (ohne UKE)
Seit der Schaffung der Norm beschäftigt sich die Rechtsprechung mit ihrer Auslegung. Nicht zuletzt seit in Kraft treten des BTHG hat es zahlreiche Urteile zur ordnungsgemäßen Durchführung des BEM und den Ansprüchen der BEM-Berechtigten gegeben. Bei genauer Betrachtung ist vieles im – bis heute unveränderten - Text bereits enthalten:
„Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber mit der zuständigen Interessenvertretung im Sinne des § 176, bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung, mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement).“
Die erste praktische Frage stellt sich bei der Formulierung „sechs Wochen“. Intention der Regelung war und ist die Prävention. Für betroffene Teilzeitbeschäftigte, deren Arbeitsunfähigkeitszeiten sich aus Einzeltagen aufsummieren, entstünde ein vergleichsweise längerer Zeitraum als bei Vollzeitbeschäftigten, wenn man aus „sechs Wochen“ pauschal auf 30 oder 36 Tage schließen würde. Wie dies ohne Diskriminierung und - dem Präventionsgedanken verpflichtet - angewendet werden soll, ist in der Tat unklar. Sinnvoll erscheint eine individualvertraglich ausgelegte Regelung ähnlich der Praxis beim Urlaubsanspruch. Diese sollte bestenfalls in einer Betriebsvereinbarung zum BEM verankert sein.
Der Beschluss des BAG vom 22. März 2016 (Az 1 ABR 14/14) hat ausführlich herausgearbeitet, welcher Unterschied inhaltlich zwischen „klären mit“ und „klären zusammen mit“ besteht, bzw. verdeutlicht, dass hinter dem Wort „klärt“ nicht die eigentlichen Fragestellungen im BEM-Gespräch, sondern der formale Klärungsprozess BEM steht. Im Ergebnis ist der Betriebsrat nur in Fragen des allgemeinen Verfahrens zu beteiligen, nicht aber zwingend Teilnehmer des einzelnen BEM.
Ein wesentliches Element dieses Klärungsprozesses steckt im Hinweis „mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person“. Hier klingt nicht nur der ungeschriebene Leitsatz des SGB IX „nicht ohne mich über mich“ durch, sondern auch die datenschutzrechtliche Absicherung, denn der BEM-Berechtigte selbst entscheidet letztendlich über die Nutzung seiner Daten hinsichtlich des wie aber auch durch wen.
Aufgrund des Arbeitsverhältnisses, welches dem Arbeitgeber Fürsorgepflichten auferlegt, nutzt dieser die AU-Daten als BEM-auslösendes Moment und muss das Verfahren in jedem Fall anbieten. Der BEM-Berechtigte ist nicht zur Annahme verpflichtet (rechtliche Obliegenheit), allerdings darf man im Falle der Annahme ein gewisses Maß an kooperativem Verhalten des Arbeitnehmers erwarten, da im gegenseitigen (synallagmatischen) Vertrag beide Seiten die Interessen des anderen zu schützen haben, hier also der Arbeitnehmer auch das berechtigte Interesse seines Arbeitgebers daran, dass er sobald wie möglich wieder arbeitsfähig ist.
„Soweit erforderlich, wird der Werks- oder Betriebsarzt hinzugezogen.“ Fraglich ist, wer die Erforderlichkeit einschätzen kann. Nach Ansicht erfahrener Betriebsärzte kann diese Entscheidung nur von einem Arzt getroffen werden, jedenfalls dürfe sie nicht medizinischen Laien überlassen werden (vgl. Achim Krüger/ Eckhard Müller-Sachs in Betriebliches Eingliederungsmanagement in der Praxis, Haufe Verlag 2018, 1. Auflage, Seite 157). Selbstverständlich gilt auch hier, dass nichts gegen den Willen des BEM-Berechtigten geschehen darf. Ein Urteil des LAG Schleswig-Holstein vom 11.04.2018 (Az 6 Sa 361/17) erging zugunsten einer Beschäftigten mit der Begründung, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, Empfehlungen eines Betriebsarztes aus einem BEM mit positivem Ergebnis umzusetzen.
„Die betroffene Person oder ihr gesetzlicher Vertreter ist zuvor auf die Ziele des betrieblichen Eingliederungsmanagements sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen.“ Dieser kurze Satz beinhaltet sowohl eine zeitlich zwingende Abfolge - erst die Information über Datenerhebung und Sinn und Zweck des BEM und dann die „aufgeklärte“ Zustimmung oder Ablehnung des BEM-Berechtigten - als auch die unbedingt (ggf. nochmals) zu erteilenden Informationen zum Datenschutz und zum Instrument BEM an sich.
„Kommen Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht, werden vom Arbeitgeber die Rehabilitationsträger oder bei schwerbehinderten Beschäftigten das Integrationsamt hinzugezogen.“ Diese Anweisung ist nicht neu, dennoch beschäftigte sich das LAG Frankfurt am 13.08.2018 (Az 16 Sa 1466/17) im Zuge einer Kündigungsschutzklage mit der Frage, ob ein BEM, in welchem keine Angebote der Rehabilitation erörtert wurden, ordnungsgemäß gewesen sei. Das Ergebnis – die bereits gekündigte Arbeitnehmerin hatte zwischen der ersten und der zweiten Gerichtsinstanz erfolgreich eine Reha wegen ihrer psychischen Erkrankung absolviert - war ein Wiederaufleben des Arbeitsverhältnisses nach mehr als einem Jahr Pause. Die Reha als milderes Mittel gegenüber einer Kündigung sei nicht in Betracht gezogen worden, die Beteiligung der Rehabilitationsträger stelle jedoch einen Mindeststandard eines ordnungsgemäßen BEMs dar.
Zusammengefasst lohnt sich - neben unermüdlichem Bemühen um den vom BAG geforderten „verlaufs- und ergebnisoffenen Suchprozess“ (BAG, Urteil vom 10.12.2009, Az. 2 AZR 198/ 09) - auch immer wieder der genaue Blick ins Gesetz, um Unsicherheiten zu überwinden und das großartige Instrument des BEM im Sinne des Gesetzgebers zu nutzen.