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23. Oktober 2023, von Schwerbehindertenvertretung der Universität Hamburg (ohne UKE)
Das Arbeitsgericht Nordhausen befasste sich mit dem Sonderkündigungsschutz nach § 168 SGB IX für schwerbehinderte Menschen in einem ungewöhnlichen Einzelfall.
Eine Mitarbeiterin war seit Mitte 2021 als Verkäuferin/Kassiererin in einem kleinen Unternehmen ohne Interessenvertretungen beschäftigt. Im Juli 2022 beantragte sie die Feststellung ihrer Schwerbehinderteneigenschaft. Mit Bescheid vom Februar 2023 stellte das Landratsamt rückwirkend einen Grad der Behinderung von 30 fest. Die Klägerin legte dagegen Widerspruch ein.
Ihre Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 29.09.2022 ordentlich zum 31.10.2022. Die Mitarbeiterin erhob fristgerecht Kündigungsschutzklage und machte geltend, wegen fehlender Beteiligung des Integrationsamtes sei die Kündigung unwirksam. Der Bescheid des Landratsamtes sei nicht bestandkräftig, da sie fristgerecht dagegen Widerspruch eingelegt habe.
Die Arbeitgeberin war der Ansicht, die Kündigung erweise sich nicht als unwirksam. Zwar habe die Mitarbeiterin mit Schreiben vom 19.07.2022 die Feststellung ihrer Schwerbehinderung beantragt, sie könne den besonderen Kündigungsschutz jedoch nicht in Anspruch nehmen, da sie einerseits nicht rechtzeitig, d.h. innerhalb 3 Wochen nach Zugang der Kündigung, ihre Schwerbehinderteneigenschaft angezeigt habe und andererseits inzwischen aufgrund des Bescheides vom 09.02.2023 feststehe, dass die Mitarbeiterin keinen besonderen Kündigungsschutz genieße. Es sei unbeachtlich, ob der Bescheid in Rechtskraft erwachsen sei, oder das Widerspruchsverfahren laufe.
Das Arbeitsgericht entschied, dass die zulässige Klage unbegründet sei. Die ordentliche Kündigung der Mitarbeiterin vom 29.09.2022 sei rechtswirksam. Insbesondere sei sie nicht wegen fehlender Zustimmung des Integrationsamtes gem. § 168 SGB IX unwirksam. Vom besonderen Kündigungsschutz erfasst seien Arbeitnehmer, deren Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch bereits anerkannt sei. Zwar könne sich auch derjenige auf § 168 SGB IX berufen, der vor Zugang der Kündigung einen Antrag auf Anerkennung dieser Eigenschaft beim Versorgungsamt nach § 152 Abs. 1 S. 1 SGB IX gestellt hat, soweit diese Eigenschaft zu diesem Zeitpunkt nach § 2 Abs. 2 SGB IX objektiv vorlag und das Versorgungsamt deshalb dem Antrag für eine Zeit vor dem Kündigungszugang stattgegeben habe. Dann müsse der Arbeitgeber bei Kündigungsausspruch Kenntnis von der Antragstellung haben bzw. binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung über die Antragstellung informiert werden.
Vorliegend habe die zuständige Behörde hat mit Bescheid vom 09.02.2023 festgestellt, dass die Klägerin rückwirkend zum 19.07.2022 lediglich einen Grad der Behinderung von 30 ausweise. Damit bedürfte der Ausspruch der Kündigung keiner Zustimmung des Integrationsamtes.
Das Gericht sei an den vorhandenen Bescheid gebunden. Die Nachprüfung erstrecke sich lediglich auf dessen Vorhandensein, einschließlich des Ausnahmefalls der Nichtigkeit des Verwaltungsaktes. In allen anderen Fällen habe der Bescheid Tatbestandswirkung und sei hinzunehmen. Eine Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf das nunmehr geführte Widerspruchverfahren sei nicht geboten. Vielmehr spreche die besondere Prozessförderungspflicht in Kündigungsverfahren gegen eine solche Handhabung. Eine Berufung wurde nicht zugelassen.
Hinweis: Nach § 86a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entfalten Widerspruch und Klage im Feststellungsverfahren (anders als bei der ausdrücklich im Gesetz genannten Ausnahme im Zustimmungsverfahren gem. § 171 Abs. 4 SGB IX) aufschiebende Wirkung. Dies ist im vorliegenden Fall jedoch nur hinsichtlich des Begehrens der Mitarbeiterin im Sozialrechtsweg auf Feststellung eines höheren GdB von Relevanz; das Arbeitsgericht konnte in der Sache entscheiden, ohne auf den Ausgang des Widerspruchverfahrens zu warten.